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Terra Incognita

Umnutzung der 'Lincoln-Kaserne' in Münster

Gewaltige Erdbewegungen finden derzeit auf dem Gelände der ehemaligen Lincoln-Kaserne statt. Komplett eingerüstete Bestandsbauten, abgesteckte Wegeführungen, neu gepflanzte Bäume und zahlreiche im Bau befindliche Reihenhäuser verleihen dem Gebiet eine geschäftige Atmosphäre - noch, denn auf diesem Gelände entsteht das Projekt 'Wohnen an der Gasselstiege'.

An der nördlichen Peripherie der Innenstadt von Münster erstreckt sich das ausgedehnte Areal der der ehemaligen Lincoln-Kaserne auf einer plateauartigen, rund sieben Hektar großen Fläche, deren Niveau etwa einen Meter höher liegt als die angrenzende Umgebung, was diesem Bereich bereits eine ganz eigene Identität verleiht. Eine teilweise rekonstruierte Umfassungsmauer grenzt das Gebiet zusätzlich nach Süden und Westen ab, während sich im Nordwesten grüne Erholungsbereiche anschließen. Eine Zeile von vier dominanten Kasernenbauten aus der Zeit von 1917 - 1923 bildet zur südlichen Erschließungsstraße das 'Gesicht' der Gesamtanlage und prägt so den Eindruck einer 'Wohnburg' mit leicht wehrhaftem Charakter. Auch nach Osten begrenzen drei vergleichbare Bauten das Grundstück und fassen so den 16.500 m² großen ehemaligen Exerzierplatz.

Neue Wege im Kasernenbau

Architektonisch handelt es sich um vorwiegend symmetrisch gestaltete, zwei- bis dreigeschossige, massiv wirkende Gebäude mit Mansard- beziehungsweise Walmdächern. Die Putzfassaden, deren Gestaltung Einflüsse eines sachlichen Jugendstils in Verbindung mit klassischen Motiven wie Dreiecks- und Segmentgiebeln offenbaren, werden von Risaliten gegliedert.

Die Gebäude der unter dem Namen 'Dreizehnerkaserne' errichteten Militäranlage dokumentieren eine Zeit des Umdenkens auf dem Sektor des preußischen Kasernenbaus, wie Michael Kappel von der unteren Denkmalbehörde erläutert. 'Man war hier bemüht, den Soldaten mehr Kornfort zu bieten, als dies bisher in der damals sehr bedeutenden Garnisonsstadt Münster der Fall war. So sind beispielsweise die Mannschaftsräume deutlich geräumiger als bei vergleichbaren Bauten jener Zeit. Dieses großzügige Konzept fand außerdem in weiteren Gebäuden Anwendung, in denen Kasino, Küche, Wache und Verwaltung untergebracht wurden.'

Auch auf dem Gebiet der Konstruktion ging man neue Wege mit einer Mischung aus Massiv- und Stahlbeton-Skelettbau, was die äußere Erscheinung jedoch kaum verrät. Für Kappel ist die Lincoln-Kaserne damit ein 'sehr qualitätsvolles Beispiel einer 'Reformkaserne', die auch in städtebaulicher Hinsicht eine neuartige konzeptionelle Geschichte widerspiegel.' Während vormals die Soldatenunterkünfte oft in ausgedienten Klosteranlagen unweit des Innenstadtbereiches untergebracht waren, rückte man diese Anlage in einen weiteren Randbereich, wodurch der großzügige Entwurf erst möglich wurde.

Motiviert vom Erfolg dieser Anlage errichtete man vor allem in den 30er Jahren weitere Bauten nach dem bewährten Konzept, woraus sich allmählich ein ganzer Kranz derartiger Anlagen in den Randlagen der Stadt entwickelte, die heute teilweise zur Disposition stehen und damit dem neuzeitlichen Städtebau faszinierende Möglichkeiten bieten. Die Entwicklungen rund um die Lincoln-Kaserne stellen dies derzeit eindrucksvoll unter Beweis.
Mit der Entspannungspolitik der frühen 90er Jahre brach auch für diese Militäranlage eine neue, erfreulichere Zeit an. Wurde sie bisher als reiner Nutzbau empfunden und behandelt, so erkannte man nun auch ihre architektonischen und geschichtlichen Werte. Nach der Aufgabe der denkmalgeschützten Gebäude durch die britischen Streitkräfte schloss sich eine mehrjährige Leerstandszeit an. 1996 erwarb die Wohn- und Stadtbaugesellschaft Münster das in etwa 2,5 km Entfernung vom Stadtzentrum liegende Areal.

Städtebauliche Möglichkeiten

Für die nun anstehenden Planungen wurde ein ungewöhnliches Vorgehen festgelegt. Im Rahmen eines Workshops mit Bürgerbeteiligung fanden sich fünf Planungsgruppen zusammen, die jede für sich grundsätzliche Gestaltungsvorschläge wie Erschließung, Einbindung der historischen Bausubstanz, Grünbereiche und Neubauabschnitte in Form von Zeichnungen und Modellen erarbeitete, was eine möglichst hohe Qualität der einzelnen Wettbewerbsbeiträge garantieren sollte.
Nach der Präsentation wurden die Einwände der Bürger analysiert und Vorschläge berücksichtigt, was die Identifizierung mit dem Ergebnis für die späteren Be- und Anwohner natürlich erhöhte und zugleich den Planungsprozess transparenter machte. Und auch die direkte räumliche Nähe des Workshops zum Planungsgebiet war hervorragend geeignet, das ausgedehnte, bis dahin unzugängliche Areal erfassbar zu machen und direkt in die Planungen mit einzubeziehen.

Konzept für die Gesamtanlage

Nach Ablauf der Veranstaltung ermittelte die Jury unter den tatsächlich qualitativ hochwertigen Entwürfen die Version des Kopenhagener Büros Lorenzen als 1. Preis und beauftragte die weitere Ausarbeitung seines Konzeptes, das eine Aufteilung des Areals in drei Bereiche vorsah. Neben den nach historischem Vorbild wiederhergestellten Kasernenbauten entlang der südlichen Dreizehnerstraße, in denen Ein- bis Vierzimmerwohnungen vorgesehen waren, sollten im nördlichen Bereich in nordsüdlicher Ausrichtung mehrere, leicht gegeneinander versetzte Reihenhauszeilen und Mehrfamilienhäuser entstehen, die vom Bestand durch einen auf gesamter Länge durchlaufenden Grünzug getrennt werden, was eine direkte Konfrontation mildert und an den Gedanken der Gartenstadt erinnert. Für die Neubauten wurde eine Materialauswahl getroffen, die sich harmonisch in das Gelände einfügt und ebenso wie die festgelegte zwei- bis drei- geschossige Bauweise erst gar nicht versucht, mit den Bestandsbauten in Konkurrenz zu treten. Grundgedanke des Entwurfes war es, eine flexible Mischung verschiedener Wohnformen anzubieten und so eine Ghettoisierung sozial geförderter Viertel gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch der mittlere Grünzug mit verschiedenen Spielflächen, der im Osten in einen Quartiersplatz mündet, soll die Kommunikation unter den Bewohnern fördern. Gefasst wird dieser Platz von weiteren historischen Kasernenbauten, deren Nutzung gemeinschaftliche Zwecke vorsieht.

Die innere Erschließung erfolgt durch sparsam eingesetzte Verkehrswege. Durch ihre Art der Ausführung wird der Anteil versiegelter Flächen innerhalb des Quartiers klein gehalten. PKW-Stellplätze wurden an den nördlichen Rand beziehungsweise unter die Erde verlegt, um den quartiersinternen Kraftfahrzeugverkehr weitestgehend zu minimieren.

Umsetzung der Planungen

Nach einer Analyse der historischen Anlagen ging es an die architektonische Bearbeitung des Bestandes, die mit der konsequenten Entfernung der im Laufe der Jahrzehnte entstandenen Anbauten begann. Auch in den weiteren Außenbereichen fanden Abrissarbeiten statt. Architektonisch bedeutungslose Fahrzeughallen und schuppenähnliche Bauten wurden entfernt, kontaminiertes Erdreich ersetzt und die Versiegelung des ehemaligen Exerzierplatzes aufgebrochen.

Als 'nicht besonders gut' beschreibt der Projektleiter der Wohn- und Stadtbau GmbH Münster, Dieter Riepe, den vorgefundenen Zustand der Gebäude. Das Tragwerk war zwar in zufriedenstellender Verfassung, Innen- und Außenputze mussten jedoch komplett entfernt werden, Türen und Fenster ebenso. Auch im Dachbereich war der Austausch einzelner Teile der Konstruktion unumgänglich. Haustechnische Installationen, die der vorgesehenen Nutzung nicht entsprachen verschwanden komplett, so dass die Kasernengebäude nach und nach in ihren Rohbauzustand zurück versetzt wurden, aus dem sich nun eine zeitgemäße Innenausstattung mit neuen Bodenaufbauten, Dacheindeckungen, lnstallationen und teilweise neuen Trennwänden entwickeln konnte. Auch hölzerne Fenster und Türen entstanden in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalbehörde nach historischem Vorbild neu.

In Abstimmung mit der Feuerwehr wurde zusätzlich zu den bestehenden, an beiden Gebäudeenden befindlichen Treppenhäusern in einem der ehemaligen Mannschaftsbauten ein zentraler dritter Fluchtweg in Form eines Treppenkerns mit mittigem gläsernem Fahrstuhl angelegt. Die vormals an dieser Stelle eingebauten Betondecken mussten dazu komplett entfernt werden. An ein 'komisches Gefühl' erinnert sich Riepe, als er im Keller stehend, durch sämtliche Stockwerke hindurch den Himmel sehen konnte. 'Bei dieser Erweiterung zahlte sich natürlich die Stahlbeton-Skelettkonstruktion der Kasernenbauten ganz besonders aus, denn auch die verhältnismäßig großen Räume, die durch dieses Tragwerk möglich wurden, schufen Platz für großzügige Planungen'.

Belichtungsprobleme

Die große Schwierigkeit bestand, wie Doris Book, Mitglied des dreiköpfigen Planungsteams erläutert, in der oftmals nur einseitig möglichen Belichtung der recht tiefen Gebäude, bedingt durch den an der Nordwand verlaufenden Erschließungsgang, dessen Lage unverändert beibehalten wurde. Wegen der enormen Länge 'zerlegte' man diesen Gang durch Einschieben einzelner Wohnungen, die dadurch auch zweiseitig belichtet werden konnten, in drei überschaubare, bewohnerfreundliche Bereiche.
Durch die Tatsache, dass die vorhandenen Fenster nicht vergrößert werden durften und die originalgetreue Sprossenverglasung beibehalten wurde, war der Lichteinfall zusätzlich gemindert. Diese Defizite konnten jedoch durch eine durchdachte neue Aufteilung der ehemaligen Mannschaftsräume zu je einer Wohneinheit mit Grundflächen von 55 - 110 m² auf ein verträgliches Maß reduziert werden. Die grundsätzliche Raumstruktur der Bauten blieb bei den Wohnungsaufteilungen jedoch unangetastet.

Planerische Highlights

Zwei Highlights der Sanierung sind die Umnutzungen der Dachgeschosse und der Kellerräume. In den, aufgrund ihrer Raumhöhe gut geeigneten Kellern wurden Garagen für Mieter mit direktem Zugang zu den Treppenhäusern untergebracht. Ziel war es, den überall gegenwärtigen, ärgerlichen Anblick von parkenden Autos vor historischen Fassaden hier so weit wie möglich zu verhindern. Erschlossen werden die Garagen über eine dezente, zwischen zwei Bauten hindurchführende Rampe, die in eine zwischen der südlichen Gebäudefront und der Umfassungsmauer befindliche Fahrgasse mündet, deren Decke wiederum den Untergrund für eine als Garten nutzbare Grünfläche bildet. Dieses Detail beweist, wie vollendet das Autoproblem in günstigen Fällen gelöst werden kann.

Bei den Dachgeschossen bestand für die Planer erneut das Problem der großen Gebäudetiefe und der damit einhergehenden Belichtungsschwierigkeit. Man entschied sich für den Einbau von die Dachflucht nicht störenden Loggien, da neue Dachaufbauten mit den denkmalschutzrechtlichen Festsetzungen nicht zu vereinbaren waren. Es entstanden Maisonettewohnungen, deren obere Etagen durch den Einsatz von gläsernen Wänden zur Loggia eine ausreichende Belichtung bekamen. Unumgänglich waren dennoch zusätzliche Dachflächenfenster, die jedoch in ihrer sparsamen Anwendung akzeptabel sind.

Als besonders gelungen ist schließlich noch die Lösung der im Bestand nicht vorhandenen Balkone anzusehen, die bei zeitgemäßen Wohnungen, insbesondere bei der hier vorliegenden südlichen Ausrichtung, natürlich unverzichtbar sind. Hier wurden betont schlichte Stahlkonstruktionen mit beinah temporärer Wirkung in Kombination mit Lochblechen in verblüffend eleganter Weise vor die südliche Fassade gehängt, was, genau wie das sorgfältig erarbeitete Farbkonzept der Fassaden, in enger Zusammenarbeit mit der Münsteraner Denkmalbehörde abgestimmt wurde. Die äußere Farbgebung besteht aus einem, den massiven Bauten, Leichtigkeit verleihenden, stark aufgehellten Grauton, von dem sich die konstruktiven Segmente und, gestalterischen Elemente farblich leicht variiert absetzen.

Fazit

Das Beispiel der Lincoln-Kaserne zeigt, wie durch ein konstruktives Miteinander von Planern und Denkmalbehörde und durch gegenseitige Offenheit mit dem Willen zur Kooperation ein für beide Seiten erfreuliches Ergebnis erzielt werden kann. Die Konversion der alten Kaserne in Münsters Norden hat sicherlich zu einer schöneren und sinnvolleren Nutzung geführt, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Es wird zwar noch einige Zeit dauern, bis die Arbeiten auf dem Gelände der ehemaligen Lincoln-Kaserne abgeschlossen sind, dennoch ist schon jetzt zu erkennen, dass die vielschichtigen Nutzungen aus Maisonetten, verschiedenen Wohnungstypen mit moderaten Mietpreisen, Reihenhäusern und betreutem Wohnen in Verbindung mit gemeinschaftlich nutzbaren Einrichtungen wie Kindertagesstätte, Partyräumen, Gästewohnungen oder auch einem geplanten Car-Sharing-Projekt einen ausgezeichneten Rahmen für ein harmonisches Miteinander bieten. Ein Gesamtprojekt, bei dem die Architektur die ihr zufallende Aufgabe hervorragend erfüllt.

Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees

Bauzeit:
1999 bis 2002
Bauherr:
Wohn- und Stadtbau, Münster
Städtebauliches Konzept:
Carsten Lorenzen, Kopenhagen
Architekt:
Dieter Riepe, Wohn- und Stadtbau, Münster, Doris Book, Erwin Veenker