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Das Verwaltungsgebäude des EAW Lingen

Hier sieht man noch die Trümmer rauchen... (W. Busch)

Bei den umfangreichen Ausbaumaßnahmen während des Ersten Weltkrieges entstand 1915 im damals sogenannten 'Werkstättenamt A' südlich des 1884 erbauten Magazingebäudes das Verwaltungsgebäude des Lingener Werkes an jener Stelle, wo die Kaiserstraße noch heute eine scharfe Biegung nach Süd-Westen macht.

Es handelte sich um ein auf Repräsentation ausgelegtes, symmetrisches und in Massivbauweise errichtetes Gebäude mit Holzdecken.
Über einem Souterrain-Keller, der äußerlich die verputzte Sockelzone bildete, erhob sich ein Hochparterre sowie ein Ober- und ein Dachgeschoss. Ein Mansarddach erzeugte den gewünschten würdigen Effekt, während die Außenwände ihre plastisch-harmonische Wirkung durch den Einsatz von Lisenen, Gesimsbändern und Kassetten erhielt.
Zur Zeit seiner Entstehung befand sich der Haupteingang an der Straßenseite. Mit der später notwendig gewordenen Verbreiterung der Kaiserstraße verlegte man ihn an die schmale Südseite und versah ihn mit einem verglasten Treppenaufgang.
An der werkseitigen Längsfassade befand sich das zentrale Treppenhaus. Darüber waren die Dachausbauten zu langgestreckten Schleppgauben zusammengefasst und trafen sich in der Mitte in einem Giebel. An den Straßen- und Querseiten hatte man die Dachgauben getrennt ausgebildet, was die repräsentative Wirkung unterstrich.

Um 1924 wurde an den Hauptbaukörper ein zweigeschossiger, leicht abgewinkelter Anbau mit Dachterrasse zur Einrichtung der internen Werkschule angebaut, der werksseitig über einen separaten Eingang verfügte und zusätzlich über Durchbrüche mit dem Hauptgebäude verbunden war.
Bei der Gestaltung dieser kastenartigen Erweiterung spielten offenkundig nur wirtschaftlich-praktische Gedanken eine Rolle, denn aus gestalterischer Sicht konnte dieser Gebäudeteil nur als störend empfunden werden. Einzig die dabei entstandene großflächige Dachterrasse, die für die Nutzer der Dienstwohnungen im Dachgeschoss zur Verfügung stand, war am Rande des betriebsamen Werkgeländes sicherlich eine luxuriöse Einrichtung.

Achtung, Achtung!

In den beiden Vollgeschossen war, über einen zentralen Flur erschlossen, die Verwaltung des AW Lingen mit einer Reihe gleich großer Räume mit je zwei Fensterachsen untergebracht, während zur Werkseite ein Konferenzraum und die Sanitäranlagen angeordnet waren.

Während des Zweiten Weltkrieges befand sich außerdem in einem der Kellerräume der Sender der Kreisleitung Lingen, der neben der üblichen Propaganda Bomberverbände im Reichsgebiet anzukündigen hatte.

Nach der endgültigen Aufgabe des Gebäudes durch die Deutsche Bahn gegen Ende der 1980er Jahre stand das Verwaltungsgebäude für etwa zwei Jahre leer. Der bauliche Zustand war mit Ausnahme des stellenweise schadhaften Daches, einiger morscher Dielen und leichter Setzungsrissbildung an den Giebelwänden weitgehend stabil. Auch im Kellerbereich waren keine Feuchteschäden feststellbar.

Je später der Abend ...

Anfang März 1992 wurde das Gebäude in den Abendstunden von etwa 30 überwiegend jugendlichen Menschen besetzt. Ziel dieser Aktion war, laut Auskunft der Besetzer die Schaffung eines unabhängigen Jugendzentrums in Lingen. Außerdem sollte auf die 'angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt mit kaum preiswerten Wohnungen' hingewiesen werden.
Große Chancen konnte man dieser Aktion jedoch von vornherein nicht einräumen. Der damalige Oberstadtdirektor Karl-Heinz Vehring (CDU) wies bereits in einer ersten Stellungnahme auf den geplanten Abriss des Gebäudes hin, der aufgrund der 'unumgänglichen Anlegung eines Radweges' alternativlos sei.
Nach einer Woche mit ungewohnt heftigem Papierkrieg in der Lokalpresse, Stellungnahmen und den üblichen wechselseitigen Anschuldigungen rückten in den Mittagsstunden des 18. März 1992 zwei Abrissbagger in Begleitung von fünfzig herbeigerufenen Polizisten an.

Das Verwaltungsgebäude wurde geräumt und zusammen mit dem benachbarten (architektonisch noch bedeutsameren und von der Besetzung überhaupt nicht betroffenen) Magazingebäude innerhalb weniger Stunden panisch kurz und klein geschlagen.
In den späten Abendstunden zogen Bagger und Polizisten ab und hinterließen neben zwei Trümmerhaufen die unbeantwortete Frage nach dem Sinn dieser Aktion. Die Ironie des Ganzen liegt dabei in der Tatsache, dass die Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Stadtverwaltung eigentlich nur den willkommenen Grund lieferte, das ungeliebte Verwaltungsgebäude und seinen nördlichen Nachbarn trotz denkmalschutzrechtlicher Bedenken möglichst schnell abzureißen und den offenbar überlebensnotwendigen Radweg anzulegen.

In den folgenden Tagen wurden zahlreiche Leserbriefe in der Lokalpresse veröffentlicht, in denen überwiegend Verständnis für die Besetzung geäußert wurde. Der größte Erfolg der Besetzer war demnach die gewünschte öffentliche Aufmerksamkeit.
Die allerdings hielt nicht lange an. Anfangs zog der harte Kern der Besetzer mit einer Wagenburg von einem Standplatz zum anderen, wurde zum Kuriosum, das bestenfalls immer weiter hinten in der Zeitung auftauchte und schließlich gänzlich daraus verschwand.

Verpasste Chancen

Das Drama an der Kaiserstraße aber hinterließ die Frage: Warum wurde hier zerstört? Eine überzeugende Planung zur Neuordnung dieses Bereiches, die diese kurzsichtige Kahlschlag-Politik gerechtfertigt hätte, gab es nicht. Mit etwas Weitblick, und kreativem Sachverstand hätte im Hinblick auf die schon damals absehbare Umnutzung der Halle 1 & 2 an dieser Stelle ein qualitätsvoller Platz entstehen können.
Nutzungen als Bibliothek, Mensa oder Verwaltung wären vorstellbar gewesen und der ehemalige Charakter des Werkgeländes erfahrbar geblieben.
Leider aber hat die Kreativität der zuständigen Planer wieder einmal nur zur Ausweisung einer weiteren, belanglos gestalteten Parkfläche gereicht - nichts also, worauf die Stadt stolz sein könnte/sollte.

Heile, heile Segen

An das ehemalige Gesicht des Eisenbahnwerkes Lingen zur Kaiserstraße erinnert heute rein gar nichts mehr. Das Werk jedoch bestand nicht nur aus entwicklungshistorisch geprägten Hallen, sondern auch aus kleinteiligeren Nutzbauten, die schlicht nicht den optimalen Standort für eine Neunutzung des Gesamtensembles hatten. Dieser Umstand allein darf jedoch kein solches Tabula-rasa-Verfahren rechtfertigen.

Im Anschluss an die Abrissarbeiten wurde zunächst einmal der sehnlichst erwartete und beständig verwaiste (denn es gibt allen Ernstes inzwischen einen zweiten direkt daneben) Radweg mit Baum- und Heckenbepflanzung angelegt, denn Bäume machen sich ja immer gut.
Zwar hat sich die Lebensqualität der Anwohner der Kaiserstraße gebessert, doch sollte dies nicht darüber hinweg täuschen, dass hier nicht zum ersten Mal ein Stück Stadtgeschichte unwiederbringlich zerstört wurde und eine Planungswüste zurückließ.

Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees

Erbaut:
1915 / ca. 1924
Bauform:
Repräsentatives Gebäude mit Mansarddach, Gründerzeit, Anbau mit Flachdach
Bauweise:
Ziegel-Massivbau, Dachtragwerk Holz, Dachziegel
Grundfläche:
ca. 390m²
Max. Abmessungen:
ca. 12 x 37m
Historische Nutzung:
Werksverwaltung, Werksschule
Abbruch:
März 1992
Heutige Nutzung:
PKW-Parkfläche / Fahrradweg